Das Märchen vom Elternwahlrecht

Was ich hier zu sagen habe, werden viele nicht gerne hören. Es ist ein  Gemeinplatz: „Inklusion ist ja gut und schön – aber die Wahlfreiheit für Eltern muss erhalten bleiben!“ Wer würde hier widersprechen? Der Satz schreit geradezu nach Zustimmung. Und führt doch gefährlich in die Irre.

Zunächst einmal ist festzuhalten: Aus der UN-Behindertenrechtskonvention lässt sich kein Elternwahlrecht ableiten.

Klingt hart? Ist es aber nicht. Denn das vermeintliche Wahlrecht, also eine Entscheidung zwischen mindestens zwei echten Optionen, gibt es ohnehin nicht – oder nur sehr, sehr selten. 

Es wird höchste Zeit, mit diesem weit verbreiteten und von Gegnern der Inklusion erfolgreich instrumentalisierten Märchen aufzuräumen. Die Behindertenrechtskonvention steht ausschließlich für das Recht des Kindes auf inklusive Bildung. Sie steht nicht für ein Wahlrecht der Eltern!

Es gibt gar keine Entscheidung zwischen zwei echten Optionen

Derzeit „entscheiden“ Eltern sich meistens zwischen einer nicht optimal ausgestatteten Regelschule und einer Förderschule, die nicht am Wohnort liegt – in die aber regelmäßig viel Geld fließt. Das ist keine Entscheidung, sondern die Wahl des geringsten Übels. Kein Wunder ist es also, dass die Schülerzahlen an Förderschulen steigen!

Wenn Eltern mangels gut ausgerüsteter inklusiver Schulen das geringere Übel der Förderschule wählen müssen, dann wird damit unterschwellig und effektiv der Status Quo zementiert. Der Ausbau eines inklusiven Bildungssystems in Deutschland wird so systematisch verzögert –  und das Sonderschulwesen weiter gestärkt.

Das ist das Irreführende am sogenannten „Elternwahlrecht“: Mit dem Gebot einer progressiven Verwirklichung des Rechts auf Inklusion ist das Elternwahlrecht aktuell offensichtlich nicht in Einklang zu bringen. 

Solange Kinder mit Behinderung die benötigten Hilfen nur an Förderschulen erhalten, inklusiven Schulen aber die ausreichenden finanziellen Mittel für eine gelungene Inklusion verwehrt werden, verhindern konservative Politiker erfolgreich die Durchsetzung des Menschenrechts auf Inklusion. 

Ein Wahlrecht für Eltern darf nicht dazu beitragen, dass alles bleibt, wie es ist. Genau das ist aber derzeit der Fall. 

Wer sich weiterhin für ein Elternwahlrecht stark machen möchte, möge sich zur Begründung bitte nicht auf die Behindertenrechtskonvention berufen. Diese favorisiert ausschließlich das Recht der Kinder auf Inklusion und legt den Eltern nahe, stellvertretend für ihre Kinder dieses Recht wahrzunehmen. Wenn es denn endlich verwirklichtes Recht wäre!

Nicht die Eltern müssen das Recht auf inklusive Bildung einlösen

Damit sind wir bei einem ganz entscheidenden Argument gegen das Elternwahlrecht angelangt: Es sind nämlich nicht die Eltern, die das Recht auf inklusive Bildung einzulösen haben! Dies ist ausschließlich Aufgabe der Politik. Es ist nicht fair, sondern sehr problematisch und eigentlich völlig unmöglich, diese Aufgabe den Eltern zu überantworten.

Hierin liegt die größte Heuchelei beim Märchen von der Wahlfreiheit: Es wird verschleiert, dass der nötige Systemwechsel ein nicht verwirklichtes Menschenrecht ist – und dass die Verantwortung für die Durchsetzung dieses Rechts nur von Politikern und Bildungsbehörden übernommen werden kann. Eltern werden immer weiter notgedrungen das geringste Übel für ihr Kind wählen. Wie sich das anfühlt, weiß ich aus persönlicher, leidvoller Erfahrung. 

Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Menschenrechte aber besitzen universale Gültigkeit. Lasst und endlich dafür sorgen, dass Kinder mit Behinderung nicht länger ein isoliertes Dasein in Sonderschulen führen müssen, die sie zwangsläufig auf ein späteres Leben in exklusiven Sonderwelten vorbereiten.

 

4 Gedanken zu „Das Märchen vom Elternwahlrecht“

  1. Ich habe im Verwantenkreis Erlebt wie ein Kind beurteilt wird und an Hand des „Status“ einer bestimmten Schule (nicht normale Schule) zugeteilt wird. Dies geschehen in Hamburg und es geschieht wieder, als entschieden werden soll (nicht von den Eltern) dass das Kind die Schule wechseln müsse. Und hier geht es allem Anschein darum wie viel Geld eine bestimmte Schule für den Kind und sein Status bekommt. Hier wurde von Seiten der Behörde nie die Frage nach einer normalen Schule gestellt, sondern auf welche Sonderschule. Und dies geschieht nun beim Klassen- Schulwechsel erneut.

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    1. Dankeschön, dass Sie die Geschichte hier teilen – ein weiteres trauriges und ärgerliches Beispiel dafür, wie das Recht eines jeden Kindes auf inklusive Beschulung nach wie vor nicht umgesetzt wird in Deutschland.

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  2. Richtig, es müsste sehr viel mehr Geld und personelles Know-how in die Regelschulen fließen. Es reicht nicht, eine Schulbegleitung für 4-5 Stunden den Kindern zur Seite zu stellen. Leider gehen Kinder mit erhöhten Bedarf in einer Klasse mit 25-28 anderen Kindern unter, wenn nur eine Lehrerin die Klasse unterrichtet. Es müsste viel mehr Personal, aber auch Förderunterricht, Spezialausbildung für die Lehrer und Ausstattung zur Verfügung gestellt werden. Leider ist Deutschland in dieser Beziehung noch Entwicklungsland.

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