Die Menschen dort waren in der Tat sich selbst überlassen

Die Werkstätten der Reha-Betriebe Erftland standen 2019 öffentlich in der Kritik: die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauchs und wegen Freiheitsberaubung. Wie denkt ein Vertreter der Angehörigen heute über die Situation der Beschäftigten in diesen Werkstätten? Mein Gespräch mit Ralf  Schnackerz, dessen Bruder 2019 in einer der Werkstätten beschäftigt war:

Wie genau haben Sie damals den Stein ins Rollen gebracht, so dass die Missstände in den WfbM der Lebenshilfe Bergheim ans Licht kamen?

Im Elternbetreuerbeirat haben wir den Brief einer Mutter bekommen, die Kontakt mit der Werkstattleitung aufgenommen hatte. Sie hatte erfahren, dass Kinder fixiert und misshandelt wurden. Die Werkstattleitung hat das Thema aber auf sich beruhen lassen. Daraufhin schrieb die Mutter den Landschaftsverband Rheinland an sowie den Elternbetreuerbeirat.

Wir haben dann das Gespräch mit der Werkstattleitung angestrebt, doch auch wir bekamen keine Auskünfte. Also sprachen wir mit anderen Eltern und informierten sie. Auch diese Eltern haben uns berichtet, dass sie bereits Einzelgespräche zu genau diesem Thema gesucht hatten. So hat sich Stück für Stück ein Puzzle zusammengesetzt: Wir erfuhren, dass über fünf Jahre lang behinderte Menschen fixiert worden sind, dass sie in Räume ohne Licht geschoben wurden bei verschlossener Tür, dass Betreuer massiv mit der Pflege überfordert waren. Nichts von alldem war nach außen gedrungen.

Wir haben dann versucht, mit der Werkstattleitung und mit dem Förderverein zu diskutieren. Da kam aber weiterhin keine Bewegung rein, so dass wir es schließlich an die Presse geleitet haben.

Als wir uns vor etwa einem Jahr unterhalten haben, erzählten Sie mir, dass die Werkstattleitung nach wie vor jede sinnvolle Zusammenarbeit mit den Angehörigen verweigert. Ein Miteinander wird demnach konsequent von Werkstattleitung und Betreiberverein verhindert?

Ich kenne meinen Bruder jetzt seit über fünfzig Jahren. In allen Einrichtungen, die er besucht hat, bin ich in Eltern- und Fördervereinen drin. Überall ist die Mitarbeit von Eltern sehr erwünscht, ihre Initiative und dass sie mitgestalten. Dieser Betreiberverein aber ist der einzige Verein, der sich komplett nach außen abschottet, keinen Wert legt auf Mitgestaltung.

Der Betreiberverein ist ein Förderverein, das ist die Lebenshilfe Bergheim – und die hat 25 Mitglieder. Es war dort über Jahrzehnte nicht möglich, dass Eltern und Betreuer Mitglied werden, sondern der Verein bestand ausschließlich aus Angestellten. Diese Angestellten haben ihr eigenes Unternehmen nach außen sozialverträglich definiert, ihre Gehälter selbst bestimmt und alle Strukturen geschaffen.

Was kritisieren Sie grundsätzlich an der alltäglichen Betreuung in den WfbM der Lebenshilfe Bergheim?

„Da sind so viele Bereiche, von denen wir sagen, dass das Arbeiten so nicht erträglich ist für die Beschäftigten!“

Ein Thema ist, dass die Beschäftigten dort ein Zeitfenster bekommen, wann sie zur Toilette gehen dürfen. Wo doch jeder Mensch weiß, dass Verdauung nicht zu takten ist, sondern es muss dann entsprechend unterstützt werden, wenn das Bedürfnis da ist!

Und das war wirklich von oben so angeordnet?

Das war eine Regel, ja. Auch weil zu wenig Personal da war. Das Kernproblem ist, dass das Personal mit der Vielzahl der Menschen, die dort mit Behinderung beschäftigt sind, gar nicht mitkommt. Es gab ja auch eine Sitzung im Kreistag dazu und Statistiken, die ausgewertet wurden. Man sieht, dass in den letzten Jahren die Anzahl der Menschen mit Behinderung in Werkstätten ständig gestiegen ist, die Anzahl der Mitarbeiter aber nicht. Und das heißt: das Zahlenverhältnis von Mitarbeitern auf zu pflegende Menschen ist nicht mitgewachsen. Es ist sogar stark rückläufig! Infolge dessen waren die Menschen in der Tat sich selbst überlassen.

Auf dieses Zahlenverhältnis kommen wir noch zu sprechen. Gibt es weitere Kritikpunkte hinsichtlich der Versorgung und Obhut der Beschäftigten?

Überhaupt – die Hygiene in den Toiletten! Die Reinigung lässt extrem zu wünschen übrig, darauf wird in der Tat nicht geachtet! Da herrschen Zustände, wie wir sie vielleicht noch vor 20 Jahren auf der Autobahnraststätte hatten.

Wir haben das Problem, dass es keine Klimaanlagen in den Werkstätten gibt. Es gibt sie nur im Verwaltungstrakt – also für die Mitarbeiter ohne Behinderung, die dort tätig sind. Die Konsequenz ist, das die behinderten Beschäftigten, die in ihren Arbeitsräumen sind, im Sommer bei 30 Grad und mehr in den Räumen sitzen. Wenn es zu dicke kommt, werden sie schlussendlich mit ihren Rollstühlen in den klimatisierten Verwaltungstrakt geschoben. Dort und nicht im eigentlichen Betrieb verbringen sie dann ihre Zeit! Weil es nur in diesem Trakt aushaltbar ist.

„Selbst das Aufstellen von Sonnenschirmen war zu teuer!“

In Bergheim ist der Hofbereich für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich. Wir haben das immer wieder diskutiert, dass die Beschäftigten, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, keinen Zugang zum Außenbereich haben. Und die Beschäftigen, die rausgehen können, haben draußen keinen Sonnenschutz! In den Räumen sind im Hochsommer sehr wohl über 35°C –  und am Ende, wenn die Menschen mal rausgehen, stehen sie in der prallen Sonne. Selbst das Aufstellen von Sonnenschirmen war zu teuer!

Und es wurde nichts unternommen, um für Kühlung zu sorgen?

Wir haben viel darüber diskutiert, dass die Temperatur in den Räumen zu hoch ist. Jetzt hat man auf LED-Lampen umgestellt. Das mindert aber nicht das Hitzeproblem im Hochsommer! Wenn die Temperaturen so hoch sind, sind die Lampen der kleinste Faktor.

Es gibt keine Rolladen vor den Fenstern. Die Werkstattleitung machte ernsthaft den Vorschlag, dass die Eltern vor Betriebsbeginn ja in die Werkstatt kommen könnten, um die Fenster zu öffnen und zu lüften! Also morgens um sieben sollen die Eltern oder die Betreuer in die Werkstatt kommen und das Gebäude lüften, damit die Mitarbeiter, wenn sie kommen, gelüftete Räume haben! Da sagen wir natürlich, es ist Aufgabe der Werkstatt, dafür zu sorgen, dass klimatisierte, vernünftige Räume vorhanden sind. Da sind so viele Bereiche, wo wir sagen, dass das normale Arbeiten so nicht erträglich ist für die behinderten Menschen. 

Woran liegt es, dass so wenig Personal in der Werkstatt ist?

Am Gewinnstreben. Dieser Verein ist zwar gemeinnützig definiert, hat aber das Ziel, den Betrieb der Werkstätten mit einer Gewinnabsicht zu betreiben. Da muss man ganz grundsätzlich überlegen, ob das sinnvoll ist.

Es könnte mehr Personal eingestellt werden, aber das würde den Gewinn mindern? Wenn der Schwerpunkt nicht auf dem Gemeinnützigen liegt, sondern die Werkstatt Gewinne erwirtschaftet, dann dürfte aber diese Werkstatt nicht gemeinnützig sein!  

„Einige wenige machen sich knallhart die Taschen voll!“

Genau das ist der Widerspruch, der da im System drin ist. Wir haben ja dann eine Gemeinnützigkeit, wenn die Gemeinschaft auf Steuerersparnis setzt. Und Reduzierung als Investition für die Menschen mit Behinderung investiert. Dann ist das ja sehr wohl sinnvoll. Die Misere ist hier ganz klar, dass das Geld eben nicht im Sinne der behinderten Beschäftigten eingesetzt wird: Da sitzt eine sehr kleine Clique von Bergheimern in den Führungspositionen. Die steuert in der Werkstatt die Geschäfte, und das über Generationen. Dazu muss man wissen, dass der Vorsitzende des Fördervereins gleichzeitig vorher der Geschäftsführer des Betriebs war. Dass sein Sohn jetzt demnächst vielleicht Geschäftsführer des Betriebes wird. Dass die Qualifikationen dieser Personen überhaupt nichts mit der Arbeit mit behinderten Menschen zu tun haben. Grundsätzlich wird da im familiären Kreis sehr großzügig mit Subventionen, Steuergeldern, Fördergeldern und Betreuungsgeldern gewirtschaftet. 

Die Ursache der Missstände ist eigentlich gar nicht so sehr das unternehmerische Profitstreben, sondern sie liegt bei einigen wenigen Personen, die sich knallhart die Taschen voll machen. 

Haben sie persönlich versucht, einen Aufnahmeantrag in den Verein der Lebenshilfe Bergheim zu stellen?

Ja, natürlich! (lacht) Ich bin abgelehnt worden. Das überrascht jetzt keinen wirklich. Einige Eltern haben Aufnahmeanträge gestellt. Die Anzahl der Mitglieder in dem Verein ist auf 25 begrenzt. Bis Ende 2019 stammten die Mitglieder ausschließlich aus Angestelltenverhältnissen oder aus ehemaligen Angestelltenverhältnissen. Bei dieser limitierten Mitgliederzahl von 25 hat man inzwischen acht Eltern aufgenommen. Wer rechnen kann, merkt es jetzt schon: Die Mehrheit, eine 2/3-Mehrheit, wird bei jeder Entscheidung auch weiterhin immer bei den entsprechenden Mitarbeiter-Mitgliedern liegen. Sie führen selbst ihr eigenes Unternehmen. Es gibt keine faire, offene Transparenz in diesem Unternehmen!

Da erzählen Eltern, dass ihre Kinder mit gebrochener Nase nach Hause kommen, und es hat keinerlei nachhaltige Konsequenzen!

Es gab eine Anklage, die Staatsanwaltschaft hat mindestens eine Person aus der Werkstatt angeklagt wegen Missbrauch. Warum wurde das Verfahren eingestellt?

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, ob es eingestellt ist final. Was wir aber sagen können: Über fünf Jahre sind Menschen mit Behinderung misshandelt worden. Man hat sie eingesperrt und angebunden und es hat keine juristische, nachvollziehbare und transparente Aufarbeitung in diesem Zusammenhang gegeben.

Warum das so ist, das können wir als Elternbetreuer gar nicht so genau analysieren. Was wir aber sehr wohl mitbekommen haben, weil wir es selber erlebt haben, ist, dass eben diese Eltern, die die Vergehen zur Anzeige gebracht haben, enorm viele Nachfragen bekommen haben. Sie mussten Nachweise erbringen, dass diese Handlungen vollzogen worden sind.  Wir haben sehr große Probleme damit, dass diese Thematik nicht juristisch aufgearbeitet ist. Wir können das nicht wirklich nachvollziehen!

Das ist sehr enttäuschend.

Enttäuschend finde ich, dass am Ende des Tages von der Justiz dieses Thema nicht wirklich aufgearbeitet wurde. Da erzählen Eltern, dass ihre Kinder mit gebrochener Nase nach Hause kommen, also ein ziemlich schreckliches Erlebnis, und es hat keinerlei nachhaltige Konsequenzen. Wie kann das sein, dass diese Vergehen über Jahre stattfinden und nicht aufgearbeitet werden?

Sie sagten auch, dass der Staatsanwalt ein Verfahren wegen Missbrauchs einstellte, weil nicht zu klären sei, ob die sexuellen Handlungen nicht im beiderseitigen Einverständnis stattgefunden hätten.

Genau! Wenn ich so etwas höre, frage ich mich immer wieder: „Wie kann das sein?“  Von Schutzbefohlenen gibt es doch keine Zustimmung zu sexuellen Handlungen!

Letztendlich ist es mir egal, ob ein Mitarbeiter etwas macht, weil er überlastet ist oder weil er daran Spaß hat oder weil er es für richtig hält. Wenn ein Arbeitgeber seinen Angestellten in die Situation gebracht hat, dass er sich nicht mehr anders zu verhalten oder zu wehren weiß als mit Missbrauch, mit dem Einsperren und Anbinden von behinderten Menschen, dann muss dieser Angestellte die Notbremse ziehen und die Arbeit unterbrechen und sich Hilfe holen, sei es die Polizei oder der Notarzt. Niemand darf Menschen einsperren, nur weil er nicht mehr klar kommt.

Ihr Bruder war lange Zeit in der Werkstatt in Brühl beschäftigt. Wie geht es ihm heute?

Gott sei Dank, er lebt jetzt in einer Pflegeeinrichtung, in der behinderte und nicht behinderte, also ältere Menschen ohne Behinderung und jüngere Menschen mit Behinderung zusammen leben. Sie leben dort ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben. Das ist für uns und für ihn eine sehr schöne Erfahrung.

Er unternimmt viele Freizeitaktivitäten mit seinen Mitbewohnern – alles das, was in den letzen Jahren in der Werkstatt überhaupt nicht ging. Sie machen gemeinsame Ritschkafahrten, heute tanzen sie in den Mai! Sie essen gemeinsam Kuchen, sie gehen raus, sie feiern, sie leben. Jeden Vormittag und jeden Nachmittag sind sie aktiv, das Leben kommt wieder. Er hat ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes, sehr, sehr glückliches und zufriedenes Leben jetzt. 

Hat er Heimweh nach dem Leben in der Werkstatt?

Ne, das Thema der Werkstatt ist für ihn glaube ich ziemlich durch. Er hat für sich erkannt, dass er jetzt so viel mehr hat! Er findet auch neue Freunde und die sozialen Kontakte sind so viel ausgeprägter, der Umgang so viel direkter und herzlicher – und praktiziert mit viel gelebter Nächstenliebe. Das tut ihm in der Tat sehr gut. 

Das höre ich so gern und das freut mich von Herzen für Ihren Bruder. 

Ja, und uns erst! 

Vielen, vielen Dank für das ausführliche Gespräch, Herr Schnackerz!

 

 

2 Gedanken zu „Die Menschen dort waren in der Tat sich selbst überlassen“

  1. Das dieser skandalöse Zustand in einer Werkstatt so lange konsequenzlos blieb für die Verantwortlichen, löst bereits als nicht Betroffene hilflose Wut aus. Was müssen die Menschen dort für Qualen ausgestanden haben, hilflos diesen Angestellten ausgeliefert zu sein, von denen die Eltern und Angehörigen der dort arbeitenden Menschen mit Einschränkungen annahmen, sie dort in einem geschützten Raum zu wissen. Das Deckmäntelchen des sozial engagierten um sich gespannt, werden den niederträchtigen Instinkten mancher dort angestellten Personen, offenbar keinerlei Grenzen von aussen gesetzt.

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    1. Solche isolierten Einrichtungen bergen strukturell gesehen leider ein großes Potential für Ungutes. Wir brauchen dringend andere Perspektiven für Menschen mit Behinderung. Danke chouto für Ihren engagierten Kommentar.

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