Eine neue Form von Druck

Heute hat sich die Produktion zur einzigen Lebensform totalisiert. Die Hysterie der Gesundheit ist letzten Endes die Hysterie der Produktion. Sie zerstört aber die wirkliche Lebendigkeit. (Buyung-Chul Han, Die Austreibung des Anderen)

Ich treffe so gut wie nie Eltern von Kindern mit Behinderung, die sich gut und ausreichend informiert fühlen. Wir fragen uns von einem Amt
zum nächsten und erhalten die wirklich hilfreichen Hinweise gerade nicht von den zuständigen Ämtern, Ärzten und sonstigen Anlaufstellen, sondern in Gesprächen mit anderen Betroffenen.

In einer lesenswerten Studie des Vereines für körper- und mehrfachbehinderte Menschen stieß ich auf folgende Passage über vielerorts fehlendes Informationsmaterial für junge Mütter: 

Es erweist sich als dringlich, eine Enttabuisierung des Themas „Behinderte Kinder“ zu erreichen, damit entsprechende Informationen bei Ärztinnen, wie beispielsweise Frauenärztinnen und Kinderärztinnen oder Therapeutinnen, als Broschüre oder Faltblatt ausgelegt werden können.“ 1) 

Ärzte und Therapeuten sind demnach abgeneigt, Informationsmaterialien zur Thematik „Behinderung“ in ihren Praxen offen auszulegen. Warum? Um beispielsweise Schwangere nicht zu erschrecken, erzählt die Studie. Was ich nicht wahrnehme, gibt es nicht? So vergammeln Broschüren in den Schränken der Ärzte, denn dort werden sie erfahrungsgemäß vergessen.

Mit der Aufrechterhaltung dieser Tabuisierung unterstützen Ärzte und Therapeuten eine Entwicklung, die durch die pränatale Diagnostik vorangetrieben wird: Es könnte künftig immer weniger selbstverständlich sein, dass Menschen mit Behinderung echte Akzeptanz erfahren. Tatsächlich widerfährt es Eltern sogar, mit der Frage konfrontiert zu werden, wie sie es überhaupt zulassen konnten, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen.

Die Studie benennt eine „neue Form sozialen Drucks, der die betroffenen Eltern in inhumane Rechtfertigungszwänge bringt (4. Behindertenbericht 1998, S. 98).“  In diesem Kontext hören Eltern, die mehr als ein behindertes Kind haben, den unsäglichen Satz: „Ein behindertes Kind ist Pech, zwei sind fahrlässig.“ 

Mangelnde Akzeptanz gab es immer schon. Gleichwohl ist diese Form des sozialen Drucks womöglich neu. Die neoliberale Leistungsgesellschaft erfordert ein permanent gesundes, glückliches und starkes Leistungssubjekt. Motivation, Gesundheit, Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung stehen entsprechend hoch im Kurs. Wie um Himmelswillen passt da ein Kind mit Behinderung ins glatte Lebenskonzept? 

Glauben Sie mir: Es könnte Ihre Rettung sein! Ich spreche aus Erfahrung.

1) Wiedereinstieg mit besonderen Herausforderungen
Eine Studie von Uta Meier-Gräwe, Katharina Buck und Astrid Kriege-Steffen Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm) (Hrsg.) Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben; 2014
Erste Auflage 2014
ISBN: 978-3-910095-99-1

4 Gedanken zu „Eine neue Form von Druck“

  1. Guten Abend Frau Spicale

    Ich denke es für mich; eine „Mutter“ braucht vor allem den Trost, eine Umarmung für ihr aufopferndes, geplagtes Herz.

    Herzliche Grüße
    Hans Gamma

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  2. Es betrifft aber auch die, deren Kinder gesund geboren und im Laufe ihrer Entwicklung eine Behinderung entwickelt. Auch da steht man allein auf weiter Flur. Von den Ärzten gibt es oft nur ein Schulterzucken oder das xte neue Medikament. Ohne Austausch mit anderen Betroffenen ist man recht allein.

    Gefällt 1 Person

    1. Genau so ist es. Ich höre auch von erwachsenen Menschen, die zum Beispiel an Parkinson erkranken und sich völlig allein gelassen fühlen, sich im Dschungel der Bürokratie überhaupt nicht zurecht finden. Danke Dir für diese wichtige Ergänzung! Diesen Missstand hatte ich nicht ausschließlich für Kinder mit einer angeborenen Behinderung reklamieren wollen. Es war vielmehr die tabuisierende Haltung vieler Gynäkolog/Innen und Pädiater, die mich zu diesem Artikel motiviert hatte.

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