Es geht darum, das Leben auf die Kette zu kriegen

„Als meine Schulklasse aufgelöst wurde und die Schüler einfach in Regelschulen gesteckt wurden, war das regelrecht ein Vergehen an den Schülern!“ Die Sprachnachricht der Sonderpädagogin Monika Tielmann wurde zum Anlass für ein intensives Gespräch.

Du arbeitest mit Schülern, die verhaltensauffällig sind.

Ja. Der Förderschwerpunkt meiner Schüler ist sozial-emotional. Studiert hatte ich die Förderschwerpunkte Sprachbehinderung und Lernbehinderung. Eingestellt worden bin ich dann dort, wo gerade Bedarf war, und das war zu Beginn meiner Lehrerlaufbahn eine Schule für Erziehungshilfe. Ich hatte damals echt Angst, weil ich dachte: Damit komme ich überhaupt nicht klar! Das hatte ich nicht studiert und das wollte ich auch nicht. Ich wusste gar nicht, was ich da tun sollte!

Ich hörte vor Jahren, dass an Deiner Schule in fast jeder Pause die Polizei auf den Pausenhof kam.

Naja, ganz so schlimm war es nicht. Aber wir haben schon auch Schüler in Handschellen auf dem Boden liegen gehabt. Wenn Streit entstand, eskalierte schnell Gewalt.

Es gab Schüler, die haben mich mit einer Schere bedroht

Meine allererste Schulklasse bestand zunächst aus vier Schülern. Am ersten Tag haben sie mich freudestrahlend begrüßt, wobei mir einer der Schüler gleich mal ordentlich auf den Tisch gerotzt hat.

Welchen Abschluss konnten deine Schüler machen?

Theoretisch jeden. Wir konnten jedes Material zur Verfügung stellen. Die Schüler wurden, wenn es möglich war, zielgleich unterrichtet. Leider klappte das nicht immer. Primär geht es für diese Schüler darum, das Leben auf die Kette zu kriegen. Mit dem Elternhaus klar zu kommen, mit einem drogensüchtigen Vater zum Beispiel, einer alkoholkranken Mutter. Wir hatten nie eine homogene Lerngruppe.

Was genau brauchen Deine Schüler von dir? Über welche Kompetenzen müssen Lehrer wie du verfügen?

Du musst eine enorme Portion Herz mitbringen. Eine enorme Portion Humor. Aber auch sehr klar sein, sehr konsequent. Und das Wichtigste: Du musst eine Beziehung aufbauen können. Deine Beziehung zum Schüler ist die Grundlage für jede Arbeit. Und die ist nur dann gegeben, wenn der Rahmen kleiner ist als der in einer Regelklasse.

Ich hatte Schüler, die sich bedrohlich vor mir aufbauten und mir androhten, mich mit der Schere zu erstechen. Mir hat ein Schüler mal das Handgelenk gebrochen in der Pause. Es war der letzte Tag vor den Ferien, also saß ich dann mit einem Gips am Strand.

Wie kam es dazu?

Er war gerade 14 und hat das Rauchen nicht lassen wollen. Da ich nicht zu den Lehrerinnen gehöre, die wegschauen, habe ich ihm die Zigarette aus dem Mund genommen. Er war so sauer, dass er spontan meine Handgelenke packte und mich einen Hügel runter stieß. Sehr fest! Mein Stil war immer unkonventionell. Er hielt mich also fest und schubste mich gleichzeitig weg und dabei hat er mir das linke Handgelenk gebrochen. Es war ein feiner Haarriss, kein Trümmerbruch oder so. Aber ich fand es schlimm genug.

Welche Konsequenzen hatte das für den Schüler?

Ich hörte später, er habe mit einem Inuit übers Eis latschen müssen. Er sollte wohl einen Reset erlernen. Die ganzen Schrauben mal wieder festzurren.

Einmal hatten zwei Brüder am Mittagstisch zu Hause Streit: Plötzlich stach der eine mit seiner Gabel zu. Mitten ins Auge seines Bruders. Er verlor sein Auge. So war das.

Wenn diese Schüler dich lieben, dann für immer!

Es dauert lange, bis eine Klasse sich stabilisiert, auch wenn sie noch so klein ist. Das erste Jahr ist immer der Horror, der Wahnisnn: Vom Stühle fliegen bis zu keine Ahnung was. Im zweiten Jahr findet sich alles und im dritten Jahr erntest du. Wenn diese Schüler dich lieben oder einmal gefressen haben, dann für immer!

Ich habe damals mit individuellen Wochenplänen gearbeitet. Ich habe mir extrem viel Mühe gegeben, damit jeder Schüler seinen eigenen Plan mit spezifischen Seitenangaben und Arbeitsaufgaben hatte. Es gab einen Stundenplan, der genau besagte, wer welche Aufgaben wann zu erledigen hatte. Die Schüler brauchten eine klar vorgegebene Tagesstruktur.

Monika Tielmann beim Frühstück mit ihren damaligen Förderschülern

Jeden Morgen haben wir gemeinsam gefrühstückt. Nachts lief unsere Brotmaschine, damit wir am nächsten morgen frisches Brot essen konnten. Wir gingen jeden Tag einkaufen. Kochen, essen, gemeinsam frühstücken war extrem wichtig, denn für viele Schüler war es nicht selbstverständlich, satt in die Schule zu kommen. Das alles waren feste Rituale. In den ersten beiden Stunden wurde der Tisch gedeckt und gefrühstückt. Dann haben wir vier Stunden Unterricht gemacht – längeren Unterricht hätten meine Schüler nicht geschafft. Wir haben gemeinsam gekocht. Wir hatten eine ganz stabile gemeinsame Tagesstruktur. Unter diesen Bedingungen, in diesem Rahmen konnte ich dann später sogar mit ihnen zu einem Musical nach Hamburg reisen. Das war toll, der Wahnsinn! Es war aber ein verdammt langer Weg bis dahin.

Woher kam die Idee mit dem Musical?

Damals, also in den Anfängen meiner Lehrerlaufbahn, hatte ich eine Leidenschaft für Das Phantom der Oper. Mir kam der Gedanke: Dieses Buch liest du mit den Schülern – und dann siehst du mit ihnen das Musical!

Ich wollte ihren Horizont erweitern. Ihnen zeigen, dass es vielleicht auch noch etwas anderes im Leben gibt als Kiffen, sich gegenseitig eine Gabel ins Auge stechen, Gewalt oder einfach nur Mist. Es sollte etwas Tolles sein, etwas ganz besonderes. Etwas, dass sie von sich aus niemals in ihrem Leben unternehmen würden.

Das Buch zu lesen war harte Arbeit. Für meine Jungs eigentlich viel zu schwere Kost. Sie mussten täglich zehn Fragen fürs Leseverständnis beantworten. Es war ein langer Weg!

Die Musik – für mich eine der schönsten, die es gibt – fanden sie erst mal total beknackt: „Was ist denn das für ein Scheiß? Was läuft denn da schon wieder?“ Ich habe sie dennoch im Hintergrund ganz leise weiter laufen lassen, während des Unterrichts. So habe ich die Jungs still und heimlich langsam an die Musik herangeführt.

Parallel dazu musste ich einen Aufruf starten, wir brauchten Spendengelder für mein Vorhaben. Ich schrieb Firmen an und bat um finanzielle Unterstützung.  Sogar der Bürgermeister schrieb mir persönlich einen Brief! Wir konnten dann tatsächlich für jeden Schüler ein Ticket kaufen. Es wurde ein ganz einmaliges Erlebnis.

Mit den Hauptdarstellern des Musicals ‚Phantom der Oper‘ in Hamburg

Ich habe gesagt, wir bringen alle unsere schönsten Klamotten mit und ziehen uns schick an! Einen Schüler haben wir am Morgen vor der Abfahrt des Busses noch aus dem Bett gezerrt: Er wollte zu Hause bleiben, denn er hatte nichts besonderes zum Anziehen. So glaubte er jedenfalls. Natürlich haben wir ihn trotzdem mitgenommen.

Es war für uns alle ein unvergleichliches Erlebnis. Die waren am Ende so begeistert – ich werde nie vergessen, dass sie mitgesungen haben! So laut, dass die Leute sich umdrehten und ich sie ermahnen musste, leise zu sein. Und sie sangen den Text!

Die Lehrer an den Regelschulen hatten null Bock auf diese kleinen Terroristen

Ich glaube, dass viele der Schüler so etwas in ihrem Leben nie wieder machen werden. Das wird das erste und letzte mal gewesen sein.

Was veranlasst dich zu der Zukunftsprognose?

Tja, ich denke, das liegt definitiv an unserem System. Die Ressourcen für Veränderungen hätten wir. Wir machen sie aber nicht locker. Weder für unsere Pfleger in den Altenheimen noch für unsere Schüler.

Da sind wir am Punkt. 

Unsere Gelder werden für alles mögliche rausgeschmissen, aber nicht für unsere Kinder. Das ist das, was ich verurteile. Die Inklusion war für mich ein Sparpaket, weil sie nichts kosten durfte. Abgesehen davon: Es war so viel da, was dann verloren ging!

Wir hatten doch alles Mögliche extra für unsere speziellen Schüler eingerichtet! Und dann wurde da an den normalen Regelschulen umgebaut und rumgemodelt. Die Lehrer an den Regelschulen hatten null Bock auf diese Inklusion! Die hatten überhaupt keine Sonderpädagogik studiert, und plötzlich kamen diese kleinen Terroristen – sag ich jetzt mal –  in ihre Klassen. Ich verstehe das! Und wir, die auf diese Schüler eingestellt waren und sie unterrichten wollten –  galten auf einmal als aussterbende Art, für die es keinen Platz mehr gab. Und trotzdem wurden hohe Anforderungen an uns gestellt. Wir sollten alles wissen und die Schüler dann mit Handauflegen heilen. Von was auch immer. (Lacht resigniert) 

Glaubst du, dass diese Schüler keinen Platz finden werden in unserer Gesellschaft?

Genau das fürchte ich!

Ein aktuelles Beispiel: Das Konjunkturpaket im Zuge der Corona-Pandemie kostet den Bund 130 Milliarden Euro. Die Kohleregionen erhalten davon alleine 40 Milliarden. Die versprochenen Prämien für die Krankenpfleger hätten dagegen gerade einmal zweieinhalb Milliarden Euro gekostet. Es fehlt offensichtlich der politische Wille, andere Schwerpunkte zu setzten. Diese Kinder haben keine Lobby. Produktion und Konsum im Land werden so gut es geht sicher gestellt. Aber Geld für Schüler, für Bildung, für Pflege – dort, wo nichts produziert, nichts verkauft wird, sondern wo Menschen arbeiten, die etwas von sich geben –  da wird gespart.

(Monika wirkt jetzt traurig) Ja. Aber das ist die Basis für alles! 

Die Frage ist: Was ist gut für die Schüler? 75 Prozent aller Sonderschüler schaffen keinen Hauptschulabschluss. Kanada zum Beispiel hat richtig viel Geld ins Schulsystem gesteckt und ein inklusives Schulsystem umgesetzt, das kein Sparparket ist. Das Bruttosozialprodukt gewann dadurch langfristig sogar 7,5 Prozent dazu. Warum? Weil die Realität gezeigt hat, dass Förderschüler an guten inklusiven Schulen bessere Chancen auf einen Schulabschluss haben und damit auch auf einen Ausbildungs – und Arbeitsplatz. In der Folge bedeutet das für die Schüler Unabhängigkeit von Transferleistungen!

In Kananda gibt es jetzt eine Schule für alle: Kleine Klassen und natürlich Sonderpädagogen, die den einzelnen Schülern bei Bedarf die Unterstützung geben, die sie brauchen. Teamteaching mit einem multiprofessionellen Team ist an der Tagesordnung. Der Hochbegabte wird wird im Unterricht ebenso gefördert wie beispielsweise das Kind mit Lernschwierigkeiten. 

Du meinst mit Inklusion was ganz anderes

Wenn wir unsere Sonderschulen beibehalten, dann nehmen wir den Kindern an den Regelschulen übrigens auch das Recht, andere Realitäten kennenzulernen. Was es noch so gibt: Kinder, die sich nicht bewegen können, die manchmal laut schreien oder die nie lesen lernen. Diese Kinder sind im inklusiven Unterricht mitten drin im Klassenverbund. Auch Schüler, die mit einem Elternhaus klarkommen müssen, das ihnen keinen Schutzraum bietet. Das ist natürlich eine große, gesellschaftliche Herausforderung. Aber der Begriff ‚Vielfalt‘ behält tatsächlich auch eine enorme Horizonterweiterung für uns alle bereit.

Das ist natürlich ein anderer Aspekt.

Die PISA – Spitzenreiter Kanada und Finnland zeigen uns, wie Inklusion geht. Ich glaube: Wenn Heranwachsende immer nur in ihrer Blase bleiben, tut das unserer Gesellschaft bestimmt nicht gut. Wenn Schüler aber selbstverständlich in ihrem Alltag erleben: Oh! Die Natur bringt auch Kinder hervor, die sind gelähmt und da läuft auch mal ein Speichelfaden aus dem Mund – die haben aber Namen! Und eine Persönlichkeit. Die sind einfach von Anfang an immer mit dabei. Dann kann das einen anderen Blick aufs Leben ermöglichen. Auf das, was wichtig ist. Natürlich gibt es seltene Ausnahmen, Schüler, die tatsächlich nicht in den inklusiven Unterricht passen. Aber die Integrationsquote bei uns sollte wesentlich höher liegen.

2014 mit Gips im Urlaub

Ich glaube, du meinst mit Inklusion tatsächlich etwas ganz anderes als ich. Denn im Endeffekt ist damals Folgendes passiert: Du hattest ein paar Kinder, die in eine Regelklasse gequetscht wurden. Vielleicht konnten einige Kinder dort sogar Schritt halten. Aber bei vielen klappte es eben nicht. Einige Schüler wurden regelrecht zwangsuntergebracht, auch an anderen Förderschulen.

Und was macht der Lehrer an der Regelschule in so einer Lage mit seinen neuen Förderschülern? Wahrscheinlich muss er die dann trotzdem rausnehmen aus der Klasse, weil sie die anderen 25 Schüler stören. In der Regelschule kann man nicht ständig auf die schwachen Rücksicht nehmen, weil dann die starken Schüler nicht weiter kommen. Es ist ein Spagat. Jeder Schüler muss individuell gefördert werden, aber es darf halt auch nicht so sein, dass man stigmatisiert wird: Der ist doof!

In den inklusiven Schulen, von denen ich gerade gesprochen habe, wird natürlich niemals zielgleich unterrichtet.

Das kann auch nicht gehen!

In einer guten inklusiven Schule profitieren die Schüler, die benachteiligt sind, von den leistungsstärkeren Schülern. Inklusion kann nur gelingen, wenn stärkere Schüler die schwächeren mitziehen. Ob jetzt durch Behinderung oder weil sie aus einer chaotischen Familiensituation kommen – wenn sie mitgenommen werden von anderen Kindern, können sie voneinander lernen. Kinder geben ihr Wissen gerne weiter! Die begabteren Schüler erklären den weniger leistungsstarken den Stoff und so vertieft er sich auf beiden Seiten. Vom sogenannten Kind mit schwerer Mehrfachbehinderung bis zum Hochbegabten werden alle in einer Klasse unterrichtet, jedes Kind auf seinem Niveau und mit eigenem Material.

Momentan ist so ein Modell an unseren Schulen leider nur eine schöne Vision. Unser jetziges Schulsystem führt zu Ungerechtigkeiten, jeder weiß das. Da von Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit in unserem Land zu sprechen ist eine einzige Lüge. Und das gilt für behinderte Kinder und überhaupt für die Kinder, die aus dem Raster fallen. Die Förderschule bedeutet ja auch ein Stigma. Auch für die Eltern: Oh Gott, mein Kind muss auf die Förderschule! Früher sagte man noch Sonderschule, das war ehrlicher. Die Kinder werden ausgesondert.

Früher hieß das sogar Blödenschule! Mein Kind geht auf die Blödenschule!

Fördeschulen werden heute genau so empfunden. Auch wenn sie jetzt nicht mehr Sonderschulen oder Blödenschulen heißen, die Stigmatisieung bleibt. 

Förderschulen werden heute leider genau so empfunden, obwohl man ihnen damit total Unrecht tut. Förderschulen sind viel besser als ihr Ruf! Die Stigmatisierung im Großteil der Bevölkerung bleibt, weil viele Leute keine Ahnung haben. Ein Interesse entsteht immer erst dann, wenn Eltern selber betroffen sind. Wahrscheinlich meinen wir beide wirklich nicht dasselbe, wenn wir von Inklusion sprechen.

Ich weiß: Da ist viel kaputt gegangen damals. Inkusion meint ja, das alle die gleichen Chancen haben, allen die selbe Teilhabe ermöglicht wird. Dieses Versprechen wurde in der Praxis gar nicht eingelöst. 

Uns als Sonderpädagogen war klar, dass diese sogenannte Inklusion schief gehen musste. Für meine Schüler war es ein einziger Schock. Sie hatten gerade ihr Nest gefunden, es kam ein wenig Ruhe und Sicherheit in ihr emotionales Wirrwarr. Und plötzlich wurden sie da einfach rausgerissen. Das war eine Katastrophe, wirklich. Kann man nicht anders sagen. Ich habe Gott sei Dank den einen oder anderen noch einmal wiedergesehen. Und wenn es einigen heute wieder gut geht, freue ich ich mich. 

Liebe Moni, Dankeschön für das Gespräch!

Anmerkung: 2015 – ein Jahr nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf Regelbeschulung für Kinder mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf in NRW – entstand bei Schülern, Eltern und Lehrern großer Unmut. Die rot-grüne Inklusionspolitik gilt auf Grund des planlosen Vorgehens der Landesregierung als gescheitert.

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